Amsterdam, Teil 1: Die Stadt der Grachten, Brücken und Diamanten
VON Natalia Muler Alle Länder Europa
Anreise nach Amsterdam. Die Fahrt mit dem Nachtzug erweist sich als die richtige Entscheidung. Sehr komfortabel und genau geeignet für die Studienfahrt: Alle ganz gestresst und müde nach einer langen und anstrengenden Prüfungszeit, können wir uns endlich entspannen und feiern im halb leeren Waggon bis spät in die Nacht hinein.
Kein Passagier klagt darüber, denn junge Freude ist ansteckend und die mitgebrachten belegten Brötchen reichen für alle. Doch Richtung Morgen wiegt uns das ebenmässige Geschaukel des Zuges in den Schlaf hinein. Unsere lustige Bande, fast ausschliesslich Mädels, schaltet ab wie die übermüdeten Babys nach zehn Minuten Spazierenfahren im Kinderwagen. Erst der gemütliche graue Morgen bereitet den schlafenden Schönen ein märchenhaftes Aufwachen: Zwei gross gewachsene athletische und umwerfend gut aussehende Grenzpolizisten kommen zur Passkontrolle. Leichte Verwirrung im Wagen. Vom Nebensitz flüstert meine Freundin entzückt aus dem Halbschlaf: „Möchten Sie meinen Pass auch noch sehen?“
Einmal auf der Strasse, ist der erste Gesamteindruck: So viel Wasser, so viele Fahrräder! Als Erstes müssen wir in die Jugendherberge finden. Auf dem Weg durch die Altstadt bestätigen sich fast klischeehaft alle unsere Erwartungen: Die wunderschönen Grachten spiegeln die aufgehende Sonne; wie geschwungene Augenbrauen auf einem lächelnden Gesicht wölben sich die grazilen Brücken; an uns vorbei läuft ein fein gekleideter Geschäftsmann mit einem Joint in der Hand; im perfekten Einklang zu dem leichten in der Luft hängenden Geruch stehen die bunten Häuser entlang der Kanäle etwas schief und schräg und die leicht bekleidete Schaufensterpuppe bewegt sich plötzlich und erschreckt mich. Dann verstehe ich: Wir laufen gerade durch den Rotlichtbezirk und das hinter dem Fenster ist keine Puppe, sondern eine fleissige Stossarbeiterin des Liebesgeschäfts trat schon ihre Frühschicht an.
Jetzt mal duschen, Zähne putzen, umziehen und schon strömen wir nach draussen mit dem Wunsch alles zu sehen und nichts zu verpassen. Aber Amsterdam ist so überwältigend schön, dass unser Tempo allmählich langsamer wird. Wir verstehen gleich, warum die Innenstadt in ihrer Gesamtheit unter Denkmalschutz steht, und was Klaus Mann in der 30er Jahren des letzten Jahrhunderts bewegte zu schreiben: „Eine schöne Stadt, Amsterdam. Auch der Verbannte bewundert die nobelschlichte Architektur der alten Patrizierhäuser, spürt den etwas verwunschenen Reiz der Grachten mit ihren venezianischen Gerüchen und Perspektiven“.
Die Stadt erstreckt sich über 100 Inseln – getrennt durch etwa 200 Kanäle, Grachten, Schleusen, Dämme, Weiher und Wassergräben und vereint durch 1400 Brücken. Die Ursprünge der heutigen Metropole liegen in einer Fischersiedlung, gebaut an der Mündung des Flusses Amstel in das Ijsselmeer, in einer extrem feuchten Gegend, die hauptsächlich aus Moor und Sumpfland bestand.
Trotz der Schwierigkeiten beim Ausbau wuchs der kleine Weiler so lange und hartnäckig weiter, bis er 1300 die Städterechte bekam. Der Unternehmergeist, das Kaufmannsgespür und die vielbeschworene Toleranz seiner Einwohner prägten entscheidend die Geschichte von Amsterdam. Dank seiner Lage erlangte die Stadt sehr schnell die Kontrolle über den Warenverkehr zwischen der Nordsee und dem holländischen Hinterland. Bald kam der Handel mit sämtlichen Ländern des Ost- und Nordseeraums dazu.
Während des 80-jährigen niederländisch-spanischen Kriegs im 16. Jahrhundert erlebt die für seine Liberalität berühmte Stadt die Einwanderungswellen von protestantischen und jüdischen Flüchtlingen aus den spanisch besetzten Städten Lissabon und Antwerpen. Unter den Neuankömmlingen waren viele wohlhabende und einflussreiche Kaufleute, und bald danach trieb die Stadt erfolgreich den Seehandel mit Indien und Ostasien. Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich Amsterdam zu einer wichtigen Hafenstadt, füllte ihre Lager mit exotischen Kostbarkeiten wie Spezereien, Kaffee oder Porzellan, verfünffachte ihre Bevölkerung und begann den Grachtenring anzulegen. Amsterdam erlebte das Goldene Zeitalter.
Diese Blütezeit prägte wesentlich das architektonische Gesicht der Stadt. Das einst hauptsächlich für Personen- und Güterverkehr angelegte Grachtennetz ist heute eine der Hauptattraktionen der Stadt. Fast jedes Haus in der Altstadt sieht wie ein Museumsexponat aus: schief und schmal und doch so wunderschön. Diese Besonderheiten finden ihre Erklärung auch in der Geschichte.
Erstens wurden die Häuser wegen des sumpfigen Bodens auf Holzpfählen gebaut und diese sind im Laufe der Zeit vermodert. Daher macht die Altstadt einen etwas schiefen Eindruck. Zweitens bemass man früher die Steuer für ein Gebäude nach seiner Breite am Kanal. Infolgedessen baute man die Häuser, um keine der drei Dimensionen zu beleidigen, mit sehr schmalen Vorderfronten, dafür aber hoch, nach hinten sehr lang, und nach vorne geneigt.
Die gleichen Hintergründe erklären die Entstehung aller erdenklichen Giebelvariationen: Da es unmöglich war, die grossen Möbelstücke oder Güter durch die Treppenhäuser zu transportieren, benutzte man dazu die an den Giebeln angebrachten vorstehenden Balken mit den Flaschenzügen darauf.
Wie verzaubert flanieren wir durch die Altstadt: Die kopfsteingepflasterte Gassen entlang der Grachten, die malerischen Brücken, die schmalen Häuser, die wie alte Komplizen freundlich aneinander lehnen – bei jedem Anblick hat man den Eindruck, ein Stück Geschichte zu entdecken.
Oberstes Bild: In der Innenstadt von Amsterdam (Bild: Natalia Muler)
[vc_text_separator title=“Wo liegt dieses Reiseziel?“ title_align=“separator_align_center“][vc_gmaps type=“m“ zoom=“14″ link=“https://maps.google.com/maps?q=%C3%81msterdam,+Niederlande&hl=es&ie=UTF8&sll=37.0625,-95.677068&sspn=38.963048,86.572266&oq=amsterdam+niederla&hnear=%C3%81msterdam,+Government+of+Amsterdam,+Holanda+Septentrional,+Pa%C3%ADses+Bajos&t=m&z=11″ size=“350″]