Varanasi: Eine Stadt, die nahe geht

Die ersten Sonnenstrahlen tauchen gerade rotglühend am Horizont auf. Der Ganges ist in ein magisches Licht getaucht und verleiht dem Moment einen einzigartigen Schimmer.

Ich habe Gänsehaut, während ich das Treiben am Ufer vom Fluss aus beobachten.

Es ist 5 Uhr morgens und ein junger Inder schippert uns über den Fluss, vorbei an Menschen, die gerade ihre rituelle Morgenwaschung begehen, vorbei an den brennenden Scheiterhaufen, vorbei an Arbeitern, die die Wäsche für die Hotels auf dem Waschstein bearbeiten.

Varanasi ist eine Stadt, die nahe geht. Viel zu nahe. Es sind die Extreme dieser Stadt, die einen immer wieder umhauen. Der Tod ist allgegenwärtig. Es ist dreckig und laut. Die Armut begegnet einem an jeder Ecke und in zorniger Weise. Aber es ist auch die Anmut der Verbrennungszermonien, die abendlichen Dankesrituale am Fluss, die Trost schenken und die gnadenlose Schönheit der „heiligen Mutter Ganga“ in der Morgenröte, die einen mit dieser unvergleichbar intensiven Stadt versöhnt.


Eine Fahrt im Morgengrauen auf dem Ganges. Ein unvergessliches Erlebnis. (Bild: © Julia Schattauer / bezirzt.de)

Vom Boot aus kann man das Treiben an den Ghats mit angenehmen Abstand beobachten. Noch liegt eine wohltuende Kühle über Varanasi, doch der rauchige Geruch des brennenden Feuers liegt bereits in der Luft.

Ich beobachte die Stadt, die mich so seltsam in ihren Bann gezogen hat und fühle mich ganz plötzlich ruhig, in mir ruhend, angekommen.

Gedämpft wird die Stimmung vom Gespucke unseres Bootführers, von seinem ungenierten Gepopel und der hartnäckigen Verkaufsmasche eines Blumengesteckverkäufers, der uns unbedingt ein Gesteck schenken will, um dann doch auf ein paar Rupien Spende zu bestehen. So typisch für Indien, ich ärgere mich und lächele doch.

Die heilige Stadt Shivas

Varanasi ist die heiligste Stadt der Hindus. Gläubige pilgern in die Stadt Shivas, um dort im heiligen Ganges zu baden. Wer es schafft, hier zu sterben und an den Ufern der heiligen Ganga verbrannt zu werden, dem ist ein Ausbruch aus dem endlosen Kreis der Wiedergeburt sicher.

Ich muss zugeben, dass mir Varanasi im Vorhinein eine Heidenangst eingejagt hat. Ich hatte schon auf dem ganzen Trip meine Probleme in und mit Indien. Menschenmassen und Verkehr haben mich nicht nur einmal kurz vor den Nervenzusammenbruch gebracht. Varanasi sei schwer zu begreifen, gehe an die Substanz, hörte ich oft und ich versuchte auf alles vorbereitet zu sein.
In Varanasi ist der Tod allgegenwärtig und ich war gespannt, wie ich damit umgehen würde.

Erst zwei Tage zuvor kamen wir in Varanasi an. Als wir die wie immer turbulente Rikschafahrt hinter uns gebracht hatten und uns in den engen mittelalterlichen Gassen unseren Weg zum Hotel bahnten, war ich angespannt und ängstlich. Doch irgendwie passierte nichts. Irgendwie fühlte ich mich in den engen Gassen sicher, konnte mich dem Tempo anpassen, war in der richtigen Bewegung, im Flow.


Im Ganges wird auch gewaschen, trotz des Drecks. (Bild: © Julia Schattauer / bezirzt.de)

Der direkte Weg ins Nirvana

Unser Hotel liegt direkt am Manikarnika Ghat, dem grössten Verbrennungsghat der Stadt. Wir schlafen also nur wenige Meter von dem Ort, wo täglich hunderte Leichen verbannt werden, in einem grossen Siechenhaus unzählige Menschen auf ihren Tod warteten.

In Varanasi verbrannt werden ist die Erfüllung, eine kostspielige. Der Tod ist ein gutes Geschäft in Kashi, wie die heilige Stadt auch genannt wird. Eine Verbrennung ist teuer. Je nach Holzart variiert der Preis. Sandelholz ist selbst für westeuropäische Begriffe unbezahlbar.

Schon von Weitem sieht man den Rauch am Flussufer, wir folgen ihm. Zuerst erblicken wir die riesigen Stapel Holz, die sich hier aneinanderreihen, Stapel um Stapel. Sie lassen erahnen, wie viele Verbrennungen hier stattfinden. Dann sehen wir die ersten Scheiterhaufen und das erste Feuer.

Wir halten Abstand, beobachten die Szenerie. Menschliche Körper in wunderschöne farbige Tücher gehüllt werden auf Holzhaufen gelegt, mit einer Flamme des ewigen Feuers entfacht. Angehörige versammeln sich um die Verstorbenen, ruhig und bedächtig. Ich höre in mich hinein, warte auf ein Gefühl. Doch zu abstrakt ist das Geschehen. Ich reagiere gar nicht. Ich erkenne die Konturen der Körper, ich sehe einen Arm, der seitlich vom Holz gerutscht ist. Ich erkenne ein Knie und höre das Knacksen eines Schädels. Ich weiss, da verbrennen Körper, aber ich fühle es nicht.


An den Ghats stapelt sich das Holz. (Bild: © Julia Schattauer / bezirzt.de)

Unten im Fluss sieben Männer nach Zahngold und Schmuck. Noch eine Weile stehen wir da und tun nichts. Es ist ein komisches Gefühl nicht zu wissen, wie man sich an einem solchen Ort verhalten soll. Wir halten respektvoll Distanz, lassen die Kamera in der Tasche.

Doch plötzlich kommt ein Mann zu uns, sagt, dass wir hier nicht stehen dürfen. Wenn wir etwas erfahren wollen, dann sollen wir mit ihm kommen. Er könne uns in das Innere des grossen Hauses führen, wo die Kranken auf den Tod warteten. Ich hatte schon zuvor von dieser Masche gelesen.

Die Bestatter sind unberührbar und versuchen sich mit den Touristentouren etwas Geld dazuzuverdienen. Auch hier ein profitables Geschäft mit dem Tod. Doch eine Tour vorbei an Kranken und Toten ist so ziemlich das Letzte, was ich will und so gehen wir vorbei an Holzstapeln und folgen den Treppenstufen am Wasser entlang.

Zwischen Leben und Tod

Wir laufen schweigsam und beobachtend, sehen Kinder beim Cricketspielen zu, beim Planschen im Wasser. Daneben wird Wäsche gewaschen und sich selbst rituell gereinigt. Eine Herde Wasserbüffel steht im Wasser an den Treppenstufen und geniesst das kühle Nass. Zwischen ihnen ragt etwas aus dem Wasser. Wir schauen näher hin und erkennen, es ist eine Leiche.

Ein Mann steht daneben aber der Anblick stört hier keinen, auch nicht die Kinder, die nur wenige Meter daneben im Wasser spielen. Der Mann sieht, dass wir den toten Körper entdeckt haben und ruft: „Yes, it’s a dead body, it’s a man“, und streckt grinsend den Daumen nach oben. Wir bedanken uns höflich für die Auskunft und gehen weiter.

Nicht alle Leichen dürfen nach hinduistischem Glauben verbrannt werden. Kinder, Heilige, Kranke und auch Homosexuelle dürfen beispielsweise nicht feuerbestattet werden. Auch Menschen, die sich die Einäscherung nicht leisten können werden deshalb einfach in den Fluss geworfen. Hunde und Vögel halten sich in Scharen am Wasser auf.


Zwischen Pracht und Verfall: Varanasi. (Bild: © Julia Schattauer / bezirzt.de)

Der Spaziergang am Ufer des Ganges ist wie ein Sinnbild für das Leben. Wir haben Ganga sprudelnd und sauber in den Bergen gesehen, breit und träge in Haridwar und hier in Varanasi ist er der Mittelpunkt von Leben und Tod. Der Fluss ist heiliges Wasser für das rituelle Bad, er ist Spielplatz für die Kinder, Waschstube, letzte Ruhestätte und Müllhalde.

So widersprüchlich der Umgang mit dem Fluss erscheinen mag, so authentisch zeigt er das indische Leben. Hier findet das Leben statt, Alltag zwischen Mystik, tiefer Gläubigkeit und alltäglichen Problemen und zwischendrin: der Tod.
Wir gehen zurück durch die engen Gassen, quetschen uns vorbei an Souvenirhändlern, passieren Strassen, die von Polizisten mit Maschinenpistolen gesäumt sind. Religiöse Konflikte stehen hier an der Tagesordnung. Bombenanschläge rissen hier bereits Menschen in den Tod.

Wir sitzen auf kleinen Hockern und probieren den besten Lassi der Stadt, während vier Männer eine in Tüchern gehüllt Leiche vorbeitragen. Varanasi hat eine sonderbare Atmosphäre, der Tod ist so präsent, genauso wie das ausgelassenen Leben.

Ich bin ganz ruhig, merke, dass ich das Gesehene nicht richtig verarbeiten kann. Ich verstehe es, aber ich fühle es nicht. Doch in der Nacht prasselt alles auf mich herab. Ich träume vom Tod. So intensiv, dass ich zitternd aufwache und doch bleibt am Ende ein gutes Gefühl.

Ich bin froh, dass ich mich hier mit dem Tod auseinandersetzen muss. Hier gehört er zum Leben.


Varanasi ist bunt, dreckig, laut und mystisch zugleich. (Bild: © Julia Schattauer / bezirzt.de)

 

Artikelbild: © Julia Schattauer / bezirzt.de

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Mehr zu Julia Schattauer

Julia Schattauer ist freie Autorin und leidenschaftliche Bloggerin. Geschichten vom Reisen sind ihr Steckenpferd. Neben nützlichen Fakten geht es ihr in erster Linie ums Storytelling. Darum, den Leser in die Welt mitzunehmen und sein Fernweh zu wecken. Als studierte Kunsthistorikerin, Tourismus-, und Literaturwissenschaftlerin schreibt sie ausserdem über Themen aus Kunst und Kultur.

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